Autor: Dr. Rudolf Michalke
„Ehe Abraham ward bin Ich"
Johannes 8:58
Der Evangelist Johannes überliefert in Johannes 8,58 den Ausspruch Jesu: „EHE ABRAHAM WARD, BIN ICH“ (griechisch: „….egö eini“).
Dieser Satz wird von vielen Bibellesern im Sinne einer realen Präexistenz Jesu verstanden, wonach Jesus personhaft schon vor Seinem irdischen Leben (also vor Seinem Erdendasein) existiert haben soll. Mit den folgenden Ausführungen wollen wir beweisen, dass ein solches Verständnis dieser NT- Stelle mit dogmatischen Vorurteilen belastet, d.h. nicht mehr urchristlich ist. Was meinte denn Jesus selbst, als Er diese Worte sprach? Dieser Frage wollen wir nun unter Berücksichtigung des damaligen zeitgenössischen Denkens nachgehen.
Wenn wir uns den Zusammenhang ansehen, in welchem Jesus dieses „BIN ICH“ (das man auch mit „EXISTIERE ICH“ übersetzen könnte) ausspricht, müssen wir zugeben, dass Jesus NICHT ausdrücklich von einer REALEN und PERSONALEN PRÄEXISTENZ redet. Gehen wir zunächst einige Verse zurück, bevor wir uns Vers 58 zuwenden. Vers 51: “Wahrlich, wahrlich, Ich (Jesus) sage euch: Wenn jemand Mein Wort bewahren wird, so wird er den Tod nicht sehen ewiglich“ Jene Juden, mit denen Jesus hier ein theologisches Streitgespräch führte, nahmen mangels geistlichen Verständnisses diese Worte einfach wörtlich, weshalb sie dachten, Jesus rede hier vom physischen Tod. JESUS MEINTE ABER DEN GEISTIGEN/ GEISTLICHEN TOD, das getrennt sein von Gott durch die Sünde. Denn: „Ihr wisset, daß Er (= der Messias Jesus) geoffenbart worden ist, auf dass Er unsere Sünden wegnehme“ (1. Joh. 3,5). Dieses Missverständnis verleitete sie zu der Antwort: „Jetzt erkennen wir, dass Du eine Dämon hast.
Abraham ist gestorben und die Propheten, und Du sagst: „Wenn jemand mein Wort bewahren wird, so wird er den Tod nicht schmecken ewiglich“. Bist Du etwa GRÖSSER (und zwar Rangmäßig! vgl. Joh. 4,12) als unser Vater Abraham, der gestorben ist? und die Propheten sind gestorben. Was machst Du aus Dir selbst? (Joh. 8, 52-53). Dass Jesus davon redete, dass festgehaltene und unvergebene Sünden (vgl. Vers wie 24, 34-36) den Menschen von der Gemeinschaft mit Gott (=Jahweh; vgl. z.B. Jes. 59,1-8) trennen, ihn also im geistigen / geistlichen Tod halten, daran dachten jene Juden nicht. Aber sie erkannten richtig, dass Jesus den Anspruch erhob, EIN GRÖSSERER, ein bedeutenderer (NICHT : ÄLTERER) als Abraham zu sein (Vers 53). Bei der Auseinandersetzung Jesu mit den Juden geht es bis zum Schluss darum, dass Jesus GRÖSSER , NICHT ÄLTER, ALS ABRAHAM ist. Es ist ein Rangstreit (wegen Abraham ) und kein Streit ums Alter!
Im weiteren Verlauf des Gesprächs sagt Jesus den zuhörenden Juden: „Abraham, euer Vater, frohlockte, dass er Meinen Tag sehen sollte, und er sah ihn und freute sich“ (Joh 8,56). Bei diesem Ausspruch konnte Jesus ein gewisses Verständnis bei seinen Zuhörern voraussetzen, da sich die alte Synagoge vielfach mit den Abraham zuteil gewordenen Offenbarungen Gottes über DIE ZUKÜNFTIGE WELT (einschließlich jenen über den ZUKÜNFTIGEN MESSIAS) beschäftigte. Da sprach man auch davon, dass Gott bereits Adam (der vor Abraham lebte) und Mose (der nach Abraham lebte) durch geistige (= prophetische) Schau Zukünftiges habe sehen lassen. Dabei ist zu beachten , Dass die alte Synagoge keinen real Präexistenten Messias, sondern Vorsehung nur einen Messias in der Vorsehung oder Vorkenntnis Gottes ( ideelle Präexistenz ) kannte (vgl. z.B. Jes, 42,9; 46,10; 2.Kön.19,25; Pred. 6,10, Ps. 139,16). Die Targumim (=aramäische paraphrasierende Übersetzungen von Teilen des AT) kennen ebenfalls keinen real Präexistenten Messias! So etwa spricht der Targum von Micha 5,1 vom Gesalbten, „der über Israel herrschen soll“, „Dessen Name seit Alters, seit uralten Zeiten genannt wurde“. Gemäß aramäischer Peschitta: „Dessen hervorgehen seit alters, seit Urzeit vorhergesagt worden ist. Vorhersage des zukünftigen Messias zur Zeit von Adam und Eva: 1.Mo.3,15, zur Zeit von Mose: vgl. 5.Mo: 18,15-19; zur Zeit von Abraham (bei Paulus): vgl. Gal. 3,16. (Nach Pesiq. R. 36 soll Gott zu Beginn der Weltschöpfung selbst dem Satan den zukünftigen Messias gezeigt haben. Beachte auch hier die AT- Stelle 1.Mo:3,15)
Zurück zu Joh.8,56. Diese Worte Jesu (siehe oben) waren für die Juden eine Zumutung, zumal Jesus noch ein junger Mann von nur etwas mehr als dreißig Jahren war. Der Ausdruck „Du bist noch nicht fünfzig Jahre Alt“ (8,57 a) war eine orientalische Redensart, die man für junge Leute gebrauchte,denn erst am diesem Alter (50 Jahre) gestand man Männern gewisse Sonderrechte zu (z.B. Aufnahme in den Rat), und das Volk glaubte, dass ihnen ihr Alter Weisheit und Einsicht verleihe (vgl. z.B Hiob 8,8; 12,12).
„Da sprachen die Juden zu Ihm: Du bist noch nicht fünfzig Jahre alt und Abraham hätte Dich gesehen?“ Joh 8,57. Nur diese Formulierung der Juden ist von ihrer Warte aus folgerichtig, denn Jesus hatte ja gerade vorher gesagt: „Abraham, euer Vater , frohlockte, dass er meinen Tag sehen sollte und er sah ihn und freute sich“ (Joh. 8,56). Dieses „…. und Abraham hätte Dich gesehen?“ (Vers 57) entspricht sowohl dem Text des aramäischen Sinai - Syrers als auch griechischen Texten ( wie dem Text des Bodmer Papyrus p/75 und der ursprünglichen Lesart des Codex Sinaiticus) und koptischen Texten. Dagegen ist die Textvariante „… und Du hast Abraham gesehen?“ (Vers 57), verglichen mit Vers 56, logisch nicht folgerichtig, auch wenn sie in gewissen Bibeln aufscheint, den Jesus behauptet gemäß Vers 56 ja gar nicht, Er habe Abraham gesehen, sondern umgekehrt ist es der Fall, nämlich Abraham habe Ihn (bzw. Seinen Tag) gesehen. Abraham sah den zukünftigen Messias in einem Prophetischen Sinn (vgl. Heb. 1,13,39) Eine ähnliche prophetische (Zukunfts - Schau von Ihm hatte z.B auch Jesaja (vgl. z.B. Joh. 12,38 und 41 mit Jes. 53).
Durch den Hinweis Jesu, dass selbst Abraham, der etwa zweitausend Jahre vor Ihm gelebt hatte und den Juden zur Zeit Jesu als ihren „Vater“ (Joh. 8, 39a, 53a) ehrten, eine Schau des Tages Jesu zuteil geworden war (Vers 56), sollten die anwesenden Juden langsam begreifen, dass Er, Jesus trotz Seines Alters von noch nicht einmal fünfzig Jahren eine sehr bedeutende Persönlichkeit ist. Genau das wollte Jesus ihnen zu verstehen geben (Vers 56), jedoch hielt Er sich bis zu diesem Zeitpunkt immer noch zurück, ihnen in aller Deutlichkeit zu sagen, dass Er rangmässig vor Abraham steht, denn das wäre für Seine verblendeten Zuhörer erst recht unfassbar gewesen, da sie in Ihm ja nicht den Verheissenen Messias (der selbst Abraham verheißen worden war) erkannten. Als sie aber ihr Nicht-Verstehen Wollen dadurch zu rechtfertigen versuchten, dass sie Jesus auch noch Sein Junges alter vorhielten, ging Jesus aufs Ganze und sage ihnen klipp und klar die Wahrheit. (Vgl. die Art und Weise wie sich Jesus der viel verständigeren samaritischen Frau als Messias zu erkennen gibt! Joh. 4,25-26).
Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, Ich sag euch: Ehe Abraham ward, bin Ich. Da hoben sie Steine auf, damit sie auf Ihn würfen. Jesus aber verbarg sich und ging aus dem Tempel hinaus; Joh. 8,58.59. Da Jesus den Anspruch erhob, Der Christus Gottes zu sein (d.h. Der lange zuvor verheissene Messias), ist es klar, dass Er in gewissem Sinn bereits „Ehe Abraham“ war.
Denn bevor die Bibel (in der Genesis) Abraham erstmals erwähnt, weist sie schon lange vorher auf den Messias hin, nämlich auf jenen Nachkommen von Eva, von dem die Prophetie sagt: „Er wird dir (=Schlange ) den Kopf zermalmen, und du (= Schlange), du wirst Ihm die Verse zermalmen“ (1.Mose 3,15). Diese AT stelle nennt man „Prot (o) Evangelium, weil sie das Evangelium bereits in Kurzform prophetisch andeutet und vorschattet (vgl. Joh. 8,44; 1.Joh. 3,8; u.a. vgl. ferner Lk.10, 18; Off. 12,9-17 ) 1.Petrus 1,20 sagt von Jesus:“…..welcher zwar zuvor erkannt ist vor Grundlegung der Welt, aber geoffenbart worden am Ende der Zeiten um euretwillen“
Der Messias steht Rangmässig nicht nur vor Johannes, dem Täufer (auch in Joh. 1,15, 26b-27,30 geht es um den Vorrang), sondern auch vor Abraham, denn Gott hat alles im blick auf Ihn erschaffen. Im griechischen Text des Codex Bezae und in den altlateinischen Texten fehlt in Joh. 8, 58 das Wort „ward“: Vor Abraham ward Ich.
Im Hebräerbrief wird der Messias Jesus mit Melchisedek verglichen. Nach Seiner Erhöhung zur Rechte Gottes wird Er sogar von Gott selbst „Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks „ (z.B. Heb.5,10; vgl. Verse 5-6; 4:14; 8:1-2; 10:12-13) genannt und dadurch als solcher anerkannt. Wer war denn dieser „Melchisedek, König von Salem, Priester Gottes, des Höchsten, der Abraham entgegenging, ….., und ihn segnete, welchem auch Abraham den Zehnten zuteilte von allem“ (Heb. 7:1-2a; siehe auch 1.Mo.14:18-20) ?- Melchisedek lebte Jahrhunderte vor Mose, d.h. vor der Einführung des levitischen Priestertums. Zu seiner Zeit gab es noch nicht das Priestertum, das zur Zeit des Mose durch das Gesetz eingeführt wurde, nämlich jenes nach der „Ordnung Aarons“ (Heb. 7:11), weshalb man das Priestertum zur Zeit des Melchisedek einfach Priestertum nach der „Ordnung Melchisedeks“ nennt. So wenig wie Melchisedek ein levitischer Priester war, so wenig hätte Jesu ein solcher werden können, da Jesus aus dem Stamm Juda kam (Vers 14). Aber wie schon Melchisedek die Ehrbezeigung durch Abraham als Höherer vom Niedrigeren erhielt (Verse 4-7), so hat auch Jesus als Messias Vorrang vor Abraham (Joh. 8:58). Nicht deshalb, weil Melchisedek angeblich real präexistent war, sagt die Bibel, dass er „weder Anfang der Tage noch Ende des Lebens“ hat, Priester auf immerdar bleibt (Heb.7:3) und lebt (V.8), sondern weil die Schrift weder die Geburt noch den Tod Melchisedeks erwähnt (vgl. Peschitta). Johannes 8:58 ist also kein Beweis für eine reale Präexistenz Jesu!
Autor und Herausgeber:
Dr.Phil.Dipl.Ing.
RUDOLF J. MICHALKE
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