Die Naherwartung der Wiederkunft Christi. Welche Bedeutung hatte sie und welche Folgen ergaben sich durch das Ausbleiben der Wiederkunft?
Dabei gab es bei den Jüngern eine doppelte Naherwartung. Vor dem Tode Jesu war es die Erwartung des baldigen Beginns des von Jesus angekündigten Reiches Gottes. Nach dem Tode Jesu war es die Erwartung der baldigen Wiederkunft Jesu und damit verknüpft der Beginn des Reiches Gottes.
Es gibt heute unterschiedliche Formen der Naherwartung. Zusätzlich zur Erwartung der leiblichen Wiederkunft Christi auf dieser Erde gibt es z.B. die unter evangelikalen Christen verbreitete Entrückungshoffnung. Bei dieser Form gehen manche von einer plötzlichen „Entrückung“ (Hinwegnahme) der Gläubigen aus, die zu Jesus in die Luft versammelt würden, bevor Jesus leiblich die Erde betreten würde. Dabei ist der genaue Zeitpunkt der Entrückung umstritten, entweder geschehe es sieben oder dreieinhalb Jahre oder kurz bevor der Messias diese Erde wieder betreten wird.
Ohne Zweifel hat Jesus seinen engen Jüngerkreis (allerdings nicht das gesamte Volk Israel) eindringlich zur Wachsamkeit aufgerufen, damit die Jünger für die baldige Wiederkunft des "Menschensohnes" (Bezug auf die vom Propheten Daniel an- gekündigte Heilsperson, vgl. Dan 7,13-14) und seines Reiches bereit seien. Spätestens nach ihrer eindrücklichen Erfahrung der Auferstehung Jesu war für die Jünger dieser angekündigte Menschensohn Jesus selbst. Deswegen wird in der Apostelgeschichte und den Briefen des NT sowie der Offenbarung des Johannes die Person des davidischen Messias (d. h. der Messias wird als ein leiblicher Nachkomme des König Davids angesehen) mit dem vom Propheten Daniel angekündigten, kommenden Menschensohn gleichgesetzt, der am Ende der Zeiten ein weltweites Friedensreich einrichtet (vgl. z. B. 2. Tess 1,7).
Die auf die Ankunft des Menschensohnes bezogenen Warnungen und Appelle Jesu haben die Jünger nicht vergessen, sondern später in der Urgemeinde bezeugt und weitergegeben. Sie begründeten die über Jahrzehnte bestehende intensive Naherwartung der Wiederkunft Christi in den Urgemeinden und der Urkirche und vereinzelter christlichen Gemeinschaften bis heute.
Doch welche Bedeutung hatte das für die damaligen Nachfolger Jesu? Und welche Auswirkungen hatte das Nicht eintreten der Naherwartung bis heute?
Denn dies sagen wir euch in einem Wort des Herrn, daß w i r, die Lebenden, die übrig bleiben bis zur Ankunft des Herrn, den Entschlafenen keineswegs zuvorkommen werden. Denn der Herr selbst wird beim Befehlsruf, bei der Stimme eines Erzengels und bei <dem Schall> der Posaune Gottes herabkommen vom Himmel, und die Toten in Christus werden zuerst auferstehen; danach werden wir, die Lebenden, die übrig bleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft; und so werden wir allezeit beim Herrn sein. (1.Thess 4,15-17)
Offensichtlich hatte es irritierende Fragen bei den Thessalonichern gegeben: Was passiert mit den schon vor der Ankunft des Herrn gestorbenen Gläubigen, von denen es immer mehr gab? Was ist mit dem Rest derer, die noch leben?
Paulus tröstete und stellte eine Wiedervereinigung mit den Toten bei der Ankunft Christi in Aussicht. Dabei ging Paulus ganz klar davon aus, dass die Thessalonicher diese Ankunft des Herrn sehr bald erleben würden.
Diese herrliche Perspektive gab den Christen in besonderer Weise Kraft, ihren Glauben zu leben, Strapazen und sogar Verfolgung auf sich zu nehmen. Die Zeit der Mühe und des Leidens war ja begrenz
Das Durchhalten würde belohnt werden bei der baldigen Wiederkunft des Herrn. Dann würden die Verfolger bestraft werden, zur Genugtuung der Verfolgten:
... euch aber, den Bedrängten, mit Ruhe vergilt, zusammen mit uns bei der Offenbarung des Herrn Jesus vom Himmel her mit den Engeln seiner Macht, in flammendem Feuer. Dabei übt er Vergeltung an denen, die Gott nicht kennen, und an denen, die dem Evangelium unseres Herrn Jesus nicht gehorchen; sie werden Strafe leiden, ewiges Verderben vom Angesicht des Herrn und von der Herrlichkeit seiner Stärke. (2.Thess 1,7-9)
Für die Gläubigen war es wichtig, bereit zu sein, damit sie tadellos und ohne gravierendes Fehlverhalten bei der Wiederkunft Christi angetroffen werden würden. So schreibt Paulus den Thessalonichern:
Er selbst aber, der Gott des Friedens, heilige euch völlig; und vollständig möge euer Geist und Seele und Leib untadelig bewahrt werden bei der Ankunft unseres Herrn Jesus Christus! (1.Thess 5,23)
Das galt natürlich erst recht für Gemeinde Verantwortliche wie z. B. Titus, den Paulus angesichts der Wiederkunft Christi aufforderte, nicht von der rechten Lehre abzuweichen:
... daß du das Gebot unbefleckt, untadelig bewahrst bis zur Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus!“ (1.Tim 6,14)
Angesichts der bevorstehenden Ankunft des Herrn schrieb Paulus den Korinthern „ins Stammbuch“, dass sie sich ihm gegenüber nicht von einem Kritikgeist bestimmen lassen sollten, der vorschnell beurteilt und verurteilt:
So verurteilt nichts vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch das Verborgene der Finsternis ans Licht bringen und die Absichten der Herzen offenbaren wird! Und dann wird jedem sein Lob werden von Gott. (1.Kor 4,5)
Paulus ging, wie die anderen Jünger und Apostel, davon aus, dass er am Ende des Zeitalters lebte und bald ein neues anfangen würde, und verknüpfte diese Feststellung mit der Ermahnung, durchzuhalten und einen korrekten Lebenswandel zu führen:
Alles dies aber widerfuhr jenen als Vorbild und ist geschrieben worden zur Ermahnung für uns, über die das Ende der Zeitalter gekommen ist. Daher, wer zu stehen meint, stehe zu, daß er nicht falle. (1.Kor 10,11+12)
Immer wieder wird im Neuen Testament die nahe Ankunft des Herrn als Motivation für einen dem Christen entsprechenden Lebenswandel benutzt:
indem wir unser Zusammen kommen nicht versäumen, wie es bei einigen Sitte ist, sondern einander ermuntern, und das um so mehr, je mehr ihr den Tag herannahen seht! (Hebr 10,25)
Habt auch ihr Geduld, stärkt eure Herzen! Denn die Ankunft des Herrn ist nahe gekommen. Seufzt nicht gegeneinander, Brüder, damit ihr nicht gerichtet werdet! Siehe, der Richter steht vor der Tür.“ (Jak 5,8+9)
Unter der Voraussetzung, dass Jesus mit dem zukünftig kommenden Menschensohn sich selbst meinte , hat er seine Jünger dadurch motiviert, dass er ein baldiges Wiedersehen mit seinen Jüngern und seine baldige Ankunft in Herrlichkeit bzw. das bald anbrechende Reich Gottes in Aussicht stellte.
Jesus wies seine Jünger darauf hin, dass der Menschensohn noch, bevor sie ihren Auftrag vollendet haben würden, vom Himmel wiederkommen würde:
Wenn sie euch aber verfolgen in dieser Stadt, so fliehet in die andere; denn wahrlich, ich sage euch, ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende sein, bis der Sohn des Menschen gekommen sein wird.“ (Mt 10,23)
Deswegen kündigte er ihnen auch an, dass einige seiner Jünger nicht sterben würden, bis er gekommen sein würde:
Denn der Sohn des Menschen wird kommen in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln, und dann wird er einem jeden vergelten nach seinem Tun. Wahrlich, ich sage euch: Es sind einige von denen, die hier stehen, die werden den Tod keinesfalls schmecken, bis sie den Sohn des Menschen haben kommen sehen in seinem Reich. (Mt 16,27+28)
Die von den Jüngern empfundene Härte der von Jesus geforderten radikalen Nachfolge wurde von ihm durch den Hinweis auf die zukünftigen Verhältnisse im Reich Gottes gerechtfertigt. Hier sehen wir eine gewisse Parallele zu Paulus, der wie oben erwähnt mit Hinweis auf die baldige Ankunft des Herrn die Gläubigen zum Durchhalten bewegen wollte. Immerhin hatten die Jünger wegen Jesus vieles verlassen: ihre Arbeit, teilweise ihre Familie, ihre Freunde. Das war schwer durchzuhalten, wenn nicht ein Ausgleich winkte bzw. die Zeit begrenzt würde. Deswegen ist ihre diesbezügliche Frage nur zu verständlich:
Da antwortete Petrus und sprach zu ihm: Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt. Was wird uns nun werden? (Mt 19,27)
Ihr aber seid es, die in meinen Anfechtungen bei mir ausgeharrt haben.
So vermache ich euch denn die Königswürde (oder: Königsherrschaft), wie mein Vater sie mir vermacht (= bestimmt) hat: ihr sollt (dereinst) in meinem Reiche an meinem Tische essen und trinken und sollt auf Thronen sitzen, um die zwölf Stämme Israels zu richten (= als Herrscher zu leiten). (Lk 22,28-30, Menge-Übersetzung)
Bei dieser Aussage Jesu ging es, da müssen wir uns von kirchlichen/freikirchlichen Vorstellungen frei machen, nicht um die Vertröstung auf einen christlichen Himmel, sondern um die neuen Verhältnisse, wenn Jesus auf diese Erde zurückkommt. Die Jünger sollten dann mit ihm herrschen (vgl. auch Offb 5,10!) Kurz vor seinem Tode stellte Jesus seinen Jüngern in Aussicht, dass er bald, im kommenden Reich Gottes, mit ihnen wieder Wein trinken würde:
Ich sage euch aber, daß ich von nun an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken werde, bis an jenem Tage, da ich es neu mit euch trinken werde in dem Reiche meines Vaters. (Mt 26:29)
Auch in der Offenbarung des Johannes wird den Nachfolgern Jesu in Aussicht gestellt, dass sie nach der Wiederkunft Jesu durch Teilnahme an seiner Königsherrschaft belohnt werden, wenn sie bis zum Ende durchhalten und die Schwierigkeiten überwinden. So sagt Jesus dort:
Und wer überwindet und meine Werke bis ans Ende bewahrt, dem werde ich Macht über die Nationen geben. (Offb 2,26)
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Jesus größten Wert darauf legte, dass seine Jünger jederzeit für die Ankunft des Menschensohnes bzw. von ihm selbst bereit sein sollten. Das war, wenn man den Aussagen Jesu in den synoptischen Evangelien folgt, sogar von heils- entscheidender Wichtigkeit. Mit anderen Worten: Wer bei seiner Ankunft nicht bereit sein
würde, bzw. wer nicht (mehr) mit der baldigen Ankunft rechnete und deswegen seinen vorbildlichen Lebenswandel aufgäbe, sogar sein Heil verlöre, wenn er kommt.
Diese eindringlichen Warnungen Jesu könnten eine Erklärung dafür sein, warum die Jünger und die durch sie zum Glauben Gekommenen so hartnäckig an ihrer Naherwartung festhielten, auch als die Apostel wegstarben und sogar viele Jahrzehnte darüber hinaus.
Die von Jesus verordnete Erwartung der Ankunft des Menschensohnes steht übrigens im krassen Gegensatz zum Verhalten der heutigen Mehrheit der Christenheit. Nur eine Minderheit erwartet wirklich das Kommen des Menschensohnes bzw. Jesu in der heutigen Zeit.
Auch die Heilsbedeutung des korrekten eigenen Lebenswandels der Christen bei der Ankunft des Menschensohnes (vgl. Lk 12,44-46) wird zumindest von der evangelischen Christenheit weitgehend ignoriert bzw. entschärft.
Glückselig jene Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend finden wird! Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich umgürten und sie sich zu Tisch legen lassen und wird hinzutreten und sie bedienen. (Lk 12,36+37)
Und ihr, seid Menschen gleich, die auf ihren Herrn warten, wann er aufbrechen mag von der Hochzeit, damit, wenn er kommt und anklopft, sie ihm sogleich öffnen. Auch ihr, seid bereit! Denn der Sohn des Menschen kommt in der Stunde, da ihr es nicht meint. (Lk 12,40)
Der Herr aber sprach: Wer ist nun der treue und kluge Verwalter, den der Herr über sein Gesinde setzen wird, um <ihm> die zugemessene Speise zu geben zur <rechten> Zeit? Glückselig jener Knecht, den sein Herr, wenn er kommt, bei solchem Tun finden wird! In Wahrheit sage ich euch, daß er ihn über seine ganze Habe setzen wird. Wenn aber jener Knecht in seinem Herzen sagt: Mein Herr läßt sich Zeit mit dem Kommen, und anfängt, die Knechte und Mägde zu schlagen und zu essen und zu trinken und sich zu berauschen, so wird der Herr jenes Knechtes kommen an einem Tag, an dem er es nicht erwartet, und in einer Stunde, die er nicht weiß, und wird ihn entzweischneiden und ihm sein Teil festsetzen bei den Ungläubigen (Lk 12,42-46)
Es ist von entscheidender Bedeutung sich bewusst zu machen, an wen Jesus seine sogenannten Endzeitreden richtete. Sie waren an seine Jünger gerichtet. Nicht an eine zukünftige Generation von Gläubigen, sondern an die erste. Und genau die- se ersten Jünger sollten all das beherzigen und erleben,
was er ankündigte. Sie meinte er, als er von Verfolgungen und Drangsalen sprach. Sie meinte er, als er die Zeichen des Gerichts und der Ankunft des Menschensohnes erläuterte
Es ist unredlich, diese Worte Jesu auf eine irgendwann in der Zukunft lebende Generation von Gläubigen in aller Welt zu projizieren. Denn davon ist nicht die Rede.
Jesus wies seine Jünger auf spezifische Zeichen hin, die in Israel stattfinden sollen: Auf den vom Propheten Daniel angekündigten "Gräuel der Verwüstung" im Jerusalemer Tempel. Er redete davon, dass die Jünger beten sollen, dass ihre Flucht von Judäa auf die Berge nicht am Sabbat stattfinden soll. (vgl. Mt 24,15-21). Von einem Sonntag ist hier bezeichnenderweise keine Rede!
Dann werden zwei auf dem Feld sein, einer wird genommen und einer gelassen; zwei Frauen werden an dem Mühlstein mahlen, eine wird genommen und eine gelassen. Wacht also! Denn ihr wißt nicht, an welchem Tag euer Herr kommt. Das aber erkennt: Wenn der Hausherr gewußt hätte, in welcher Wache der Dieb kommt, so hätte er wohl gewacht und nicht zugelassen, daß in sein Haus eingebrochen wird. Deshalb seid auch ihr bereit! Denn in der Stunde, in der ihr es nicht meint, kommt der Sohn des Menschen. (Mt 24,40-44)
Wenn aber jener <als> böser Knecht in seinem Herzen sagt: Mein Herr lässt auf sich warten, und anfängt, seine Mitknechte zu schlagen, und ißt und trinkt mit den Betrunkenen, so wird der Herr jenes Knechtes kommen an einem Tag, an dem er es nicht erwartet, und in einer Stunde, die er nicht weiß und wird ihn entzweischneiden und ihm sein Teil festsetzen bei den Heuchlern: da wird das Weinen und das Zähneknirschen sein. (Mt 24, 48-51)
Die Naherwartung war für die ersten Jünger eine wichtige Motivation für das Befolgen der ethischen Forderungen der Bergpredigt, die an seine Nachfolger gestellt wurden, um das, was im bald beginnenden Reich Bedeutung haben würde, schon in der Gegenwart zu antizipieren und zu verwirklichen.
Dieser wichtige Motivationsfaktor für die Einhaltung der ethischen Gebote der Berg- predigt ist heute weitgehend nicht mehr vorhanden, was sich nachteilig auf die gelebte Ethik vieler Christen auswirkt, die dem Anspruch Jesu, im Hinblick auf das bald anbrechende Reich Gottes alles für ihn aufzugeben und einzusetzen, eher nicht genügen. Die Gründe dafür sind gut nachzuvollziehen, wie weiter unten noch erläutert wird.
3.1.1 Finanzielle Probleme der Jerusalemer Gemeinde
Da sich Jesu Wiederkunft verzögerte bzw. nicht eintrat, bekamen die Mitglieder der Jerusalemer Urgemeinde durch ihren praktizierten „Vermögenskommunismus“ (vgl. Apg 2,44-45; 4,34-35) finanzielle Probleme, die dadurch gemildert werden mussten, dass aus dem Ausland Spenden angenommen wurden. Die später in Antiochia entstandene Gemeinde unterstützte die quasi als„ökonomische Kommune“ lebende Jerusalemer Gemeinde mit Spenden. Nicht zuletzt sammelte Paulus Gelder aus seinen eigenen Gemeinden, um sie den Armen der Urgemeinde zur Verfügung zu stellen, als „Dienst für die Heiligen in Jerusalem“, wie er sagte. (vgl. Gal 2,10; Apg 11,29-30; Röm 15,25+26; 1. Kor 16,3).
Nervosität und Anspannung in manchen Gemeinden.
Wegen der sich verzögernden Ankunft des Herrn wurden manche Christen immer nervöser und waren in großer Anspannung. Paulus beruhigte diese Gläubigen und stellte klar, dass vor der Ankunft des Herrn (bzw. der Entrückung der Gläubigen) erst noch der „Mensch der Gesetzlosigkeit“ (der „Antichrist“ ) geoffenbart werden müsse, der zunächst einen Abfall von Gott bewirkt und der dann durch den auf die Erde wiederkommenden Jesus vernichtet würde. Solange dieser „Gesetzlose“ nicht aufgetreten sei, bräuchten sie sich nicht verrückt zu machen bzw. beunruhigen zu lassen, dass die Ankunft des Herrn unmittelbar bevorstünde. (vgl. 2. Tess 2,1-3+8, 1. Joh 2,18)
Verspottung der Christen und Kritik durch die Ungläubigen
Viele Christen waren von dem bevorstehenden Ende des Zeitalters (1. Petr 4,7) und der bald bevorstehenden Ankunft Christi überzeugt (1. Petr 5,4). Doch Jahrzehnte vergingen und nichts tat sich. Ungläubige machten sich über die nichteingetretene Naherwartung lustig und hatten dadurch natürlich ein Argument gegen die christliche Botschaft. Deswegen wurde den Gläubigen im 2. Petrusbrief der Rücken gestärkt (vgl. 2. Petr.3,3+4), indem gerade die Kritik an der nichteingetretenen Naherwartung als besonderes Zeichen der Endzeit gedeutet wurde. Außerdem wurde eine Erklärung für die Verzögerung der Ankunft gegeben: Um den Ungläubigen noch die Zeit zu geben, sich zu bekehren:
“Der Herr verzieht nicht die Verheißung, wie es etliche für einen Verzug achten, sondern er ist langmütig gegen euch, da er nicht will, daß irgend welche verloren gehen, sondern daß alle zur Buße kommen.“ (2. Petr. 3,9)
Objektiv betrachtet ist diese letztgenannte Erklärung aus heutiger Sicht gesehen jedoch nicht mehr überzeugend. Denn während der bis heute zusätzlich eingeräumten Frist, und das sind mittlerweile immerhin fast 2000 Jahre, gingen und gehen immer mehr Menschen verloren, sprich „sie werden in die Hölle kommen“ oder „sie werden für immer ausgelöscht“ (je nach Auffassung, was „verloren gehen“ bedeutet). Es ist aus Sicht einer „Gesamtbilanz der Errettung“ sehr unbarmherzig, dass die Frist immer weiter, um
Jahrhunderte, sogar Jahrtausende verlängert wird, und deswegen immer mehr Menschen „verloren gehen“.
Dadurch entstand das Gerücht, dass dieser Apostel „nicht sterben würde“, das heißt, er würde nicht sterben, weil der Herr vorher kommt.
Als der Apostel dann doch gestorben war, musste dieses Gerücht offensichtlich nachträglich korrigiert werden, was dann am Ende des Johannes Evangeliums erfolgte, durch eine Klarstellung dessen, was Jesus damals wirklich zu diesem Jünger gesagt hatte (vgl. Joh. 21,22+23).
Das alles zeigt, wie stark die Naherwartung in alle Lebensbereiche der ersten Christen hineinwirkte.
Aufgeschobene Lösung theologischer Probleme
In meinem Aufsatz „Paulus und die theologische Spaltung der Urchristenheit“ habe ich aufgezeigt, dass es damals einen grundlegenden theologischen Dissens bezüglich des Zusammenlebens zwischen gläubigen Juden und Nichtjuden gab. Die an Jesus gläubigen Juden hatten unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie sie mit den an den Messias gläubiger gewordenen Nichtjuden zusammenzuleben hätten. Auf dem so genannten Apostelkonzil in Jerusalem wurde zwar die Frage nach der Beschneidung von gläubig gewordenen Nichtjuden geklärt. Das Thema der Tischgemeinschaft zwischen gläubigen Juden und Nichtjuden blieb hingegen offen. Der Galaterbrief informiert uns darüber, dass Paulus dem Petrus diesbezüglich sogar Vorwürfe machte und ihn kritisierte. Ob zu Recht, steht hier nicht zur Debatte.
Sehr wahrscheinlich hat die Naherwartung etwas damit zu tun, dass das Problem des Zusammenlebens von Juden und Heiden auf dem so genannten „Apostelkonzil“ nicht gelöst wurde. Es gab sicher die Erwartung und Hoffnung, dass mit der baldigen Ankunft des Messias diese, vor allem in der jüdischen Urchristenheit höchst strittige Frage, sowieso bald vom Messias entschieden würde. Nach Meinung der Apostel hat es sich hier um ein Problem gehandelt, das sich sehr bald von selbst erledigt hätte. Und da diese Frage unter den jüdischen Messiasgläubigen ein extrem „heißes Eisen“ war, ließ man sie, wegen der bald erwarteten Ankunft des Messias, unbeantwortet.
zu den Nationen in alle Welt zu gehen und alle Menschen zu Jüngern zu machen, ad absurdum führt. Er hat mit der Naherwartung zu tun: Die faktische, über längere Zeit andauernde und starke Naherwartung der Urgemeinde und der Apostel widerspricht ihrer Beauftragung zur weltweiten Völkermission, weil Letzteres sehr viel Zeit benötigt. Hätten die Jünger vorausgesetzt, dass sie vorher nicht nur ihre Volksgenossen (das war schon Arbeit genug!), sondern weltweit auch alle nichtjüdischen Völker (Mt 28,19a) missionieren sollen, und dann erst das Ende des Zeitalters kommen wird (vgl. Mt 28,20), dann hätten sie selbstverständlich ihre Naherwartung sofort aufgeben müssen. Es wäre für die Jünger unmöglich gewesen, dem Befehl einer nennenswerten weltweiten Heidenmission auch nur ansatzweise nachzukommen, wenn Jesus schon zu ihren Lebzeiten wiederkommen sollte.
Hier geht es übrigens nicht mehr um die allgemeine jüdische Erwartung einer Ankunft (bzw. Wiederkunft) des Messias oder des Menschensohnes nach Israel, um konkret auf der Erde das Reich Gottes zu errichten, sondern um eine Hinwegnahme der Jünger in ein undefiniertes himmlisches Reich (Zitat: „Stätte, wo ich bin“):
„Und wenn ich hingehe und euch eine Stätte bereite, so komme ich wieder und werde euch zu mir nehmen, damit auch ihr seid, wo ich bin.“ (Joh 14,3)
„Und wenn ich hingehe und euch eine Stätte bereite, so komme ich wieder und werde euch zu mir nehmen, damit auch ihr seid, wo ich bin.“ (Joh 14,3)
Nun ist aber offensichtlich, dass diese Zusage der Wiederkunft mit anschließender Hinwegnahme zu sich in den Himmel, die Jesus kurz vor seinem Tode den damals anwesenden Jüngern gemacht haben soll, nicht eingehalten wurde. Diese Jünger sind alle gestorben. Der Messias ist eben gerade nicht wiedergekommen, um sie vor ihrem Ableben zu sich zu nehmen.
Naherwartungsbewegungen in der Kirchengeschichte
Die Entrückungseuphorie der 1970er Jahre
Verständliche "Verwässerung" der rigorosen Nachfolge Jesu
Jesu extremer Anspruch, dass seine Nachfolger für ihn sogar die Familienbindungen aufgeben sollten, kann nur vor dem Hintergrund der damals angekündigten kurz bevorstehenden „Zeitenwende" richtig eingeordnet werden:
Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig. (Mt 10,37)
Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater und die Mutter und die Frau und die Kinder und die Brüder und die Schwestern, dazu aber auch sein eigenes Leben, so kann er nicht mein Jünger sein. (Lk 14,26)
Heute ist diese radikale Forderung für viele (auch viele Christen) nicht mehr gut nachzuvollziehen. Kein Wunder: Der Mensch kann auf Dauer nur sehr schwer sichtbare familiäre Bindungen und sogar sein eigenes Leben für etwas anderes zurückstellen, das er nur im Glauben erhofft. Hier hat es natürlich derjenige leichter, der – wie möglicherweise Jesus – nicht verheiratet ist und somit keine Rücksicht auf seine Familie zu nehmen braucht.
In dem Falle, dass das neue Zeitalter auf unbestimmte Zeit ausbleibt, macht es keinen Sinn mehr, die Armen selig zu preisen. Man kann sich auch nicht mehr nur darauf beschränken, die Armut durch Almosen und Spenden zu mildern, sondern man muss sie zusätzlich politisch beseitigen, durch Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen.
Auch muss man für sich selbst finanzielle Vorsorge mit Augenmaß betreiben und darf nicht einfach alle finanziellen Ressourcen aus der Hand geben, so wie es die Mitglieder der Urgemeinde in Jerusalem in ihrer Naherwartungseuphorie gemacht hatten und deswegen verarmten.
Aus dem Gesagten folgt, dass einige Aussagen Jesu, sei es in Bezug auf bestimmte Seligpreisungen, sei es im Hinblick auf das Beiseitestellen von Beruf und Familie, nicht eins zu eins auf die heutige Zeit übertragen werden können, weil heute die baldige Ankunft des Reiches Gottes bzw. die baldige Wiederkunft des Messias – im Gegensatz zu damals – nicht mehr als sicher vorausgesetzt wird.
Die unerfüllte Sehnsucht nach einer neuen Gesellschaftsordnung
Wenn nun das Reich Gottes schon so lange nicht gekommen ist bzw. nach kirchlicher Theologie auch nicht kommen wird – weil es sozusagen nur im Himmel zu verorten ist, oder weil es geistlich verstanden wird – bleibt die Frage, ob die Menschheit aus eigener Kraft in der Lage ist, eine friedliche und gerechte Gesellschaft aufzubauen. Der Autor ist da skeptisch. Jedenfalls waren die großen Kirchen und die Freikirchen dazu bis heute nicht in der Lage.
„Ich frage mich vieles, vor allem das eine: Wie ist es möglich, daß 800 Millionen Christen diese Welt so wenig zu verändern vermögen, eine Welt des Terrors, der Unterdrückung, der Angst.“
Und am Ende der Tage wird es geschehen, da wird der Berg des Hauses des HERRN fest- stehen als Haupt der Berge, und erhaben wird er sein über die Hügel. Und Völker werden zu ihm strömen, und viele Nationen werden hingehen und sagen: Kommt, laßt uns hinaufziehen zum Berg des HERRN und zum Haus des Gottes Jakobs, daß er uns aufgrund seiner Wege belehre! Und wir wollen auf seinen Pfaden gehen. Denn von Zion wird Weisung ausgehen und das Wort des HERRN von Jerusalem. Und er wird richten zwischen vielen Völkern und Recht sprechen für mächtige Nationen bis in die Ferne. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Speere zu Winzermessern. Nie mehr wird Nation gegen Nation das Schwert erheben, und sie werden das Kriegführen nicht mehr lernen.
Und sie werden sitzen, jeder unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum, und niemand wird sie aufschrecken. Denn der Mund des HERRN der Heerscharen hat geredet.
Autor: Arno Farino